kuenstlicht | saša stanišić

Rezensionen


"Als die Fische Schnurrbart trugen"
Richard Kämmerlings, FAZ, 04.10.2006

"Krieg am langen, ruhigen Fluss"
Jörg Magenau, taz, 23.09.2006

"Ich bin Jugoslawien"
Volker Weidemann, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 01.10.2006

"Wenn Hochhäuser musizieren könnten"
Hauke Hückstädt, Frankfurter Rundschau, 04.10.2006

"Lesen sollte, ja muss man ihn in jedem Fall, und im Übrigen ist es der beste Roman des Jahres 2006"

Buchvorstellung von Hanne Kulessa im HR

Buchvorstellung

von Christine Westermann im WDR 2

Buchvorstellung

in der Brigitte

"Die besten Bücher des Herbstes. Mein Favorit: Schwimmen im Strom der Geschichte"

Andrea Ritter, Der Stern, 41/2006

An der Nahtstelle, Literaturkritik.de

Monika Münch


Als die Fische Schnurrbart trugen

Saša Stanišićs Debut erzählt von einer bosnischen Kindheit / Von Richard Kämmerlings

Aleksandar Krsmanovic ist ein junger Angelmeister. Er ist gerade aus der Pubertät heraus und hat bei den lokalen Wettkämpfen in Visegrad an der Drina die ältere Konkurrenz düpiert - mit Hilfe eines Spezialfutters, dessen Geheimnis nur er kennt. Dafür gibt es eine Medaille, einen Klaps von Onkel Mika und die Qualifikation für die Landesmeisterschaften, die am folgenden Wochenende in Osijek an der Drau geplant sind. Es ist das Jahr 1991, im kroatischen Osijek ist schon Krieg, und niemand sagt Aleksandar, daß hier keine Landesmeisterschaften mehr stattfinden werden. Selbst das Land Jugoslawien existiert nicht mehr. Im Frühjahr darauf wird auch das bosnische Visegrad von serbischen Truppen erobert werden, und mancher wird danach nie wieder einen Fisch aus der Drina essen wollen.

Visegrad, aus dem der 1978 geborene deutsch-bosnische Schriftsteller Saša Stanišić stammt, zählte 1991 21.200 Einwohner, von denen zwei Drittel Muslime waren. Als 1995 der Dayton-Friedensvertrag für Bosnien-Hercegovina unterzeichnet wurde, gab es keine Muslime mehr in der Stadt. Wer konnte, war geflohen, über zweieinhalbtausend aber waren von den serbischen Milizen ermordet worden; viele Opfer wurden von der großen Brücke in die Drina geworfen.

Das ist ein Detail des Schreckens, eines von vielen, doch wenn man es kennt, liest man auch diesen Debütroman anders. Denn darin ist viel vom Angeln die Rede und viel von der Drina, einmal wird sogar mit ihr, dem Fluß, selbst gesprochen, und sie beschwert sich darüber, daß manche Leute kaputte Waschmaschinen hineinwerfen. Von der blutigen Fracht, die sie bald flußabwärts transportieren muß, kann sie da noch nichts ahnen. Aber einmal vor dem Krieg fängt Aleksandar mit einigen erwachsenen muslimischen Anglerfreunden einen Wels, der nach einem heroischen Kampf am Ende einen Schnurrbart und eine Hornbrille auf der Nase hat. Einer der Angler wird später von den Serben gezwungen werden, seine hingerichteten Nachbarn in den Fluß zu werfen.

Saša Stanišić, der als Vierzehnjähriger mit seinen Eltern nach Heidelberg auswanderte, hat einen Roman über seine Kindheit in Bosnien geschrieben, über den beginnenden Krieg, über die Flucht und auch über seine Versuche, in Deutschland die Vergangenheit festzuhalten, oder besser: wiederherzustellen. Das Buch des jungen Autors wurde für den Deutschen Buchpreis nominiert, und es wäre zwar eine Überraschung, aber keine Sensation, wenn er ihn bekommen hätte: Denn Stanišic, der am Leipziger Literaturinstitut studiert hat, ist es gelungen, für die Geschichte seines Lebens eine erzählerische Form zu finden, die weder die Perspektive des Kindes verrät, noch den unendlichen Abstand leugnet, der den erwachsenen Autor von jenem bosnischen Jungen trennt, der vieles ahnt, aber sich noch wenig von dem vorstellen kann, was Menschen Menschen antun können.

Der Roman setzt ein mit dem Tod des geliebten Großvaters Slavko, eines altgedienten Anhängers Titos, der für den ihm auch ideologisch nacheifernden Enkel nicht nur den zerbrechenden Vielvölkerstaat, sondern auch das Erzählen verkörpert. Der Zauberstab, mit dem Stanišićs Alter ego (Saša ist ja eine Kurzform von Aleksandar) den Alten von den Toten auferstehen lassen will, wird bald zum Stift, der eine verschwundene Zeit festhält.

Gerade die ersten Geschichten des Bandes könnten dabei mit ihrem grotesken Figurenarsenal und ihrer ungezügelten Fabulierlust wie Schnappschüsse aus Kusturica-Filmen erscheinen: Slivowitz und Scheißhäuser, Schlachtfest und Zigeunerkapellen. Doch man darf sich davon nicht täuschen lassen. Stanišic malt hier manches multikulturelle Balkan-Klischee besonders prall und satt aus, um die Realität um so bedrohlicher einbrechen zu lassen: Wie bei einem ekstatischen Dorffest plötzlich irgendein junger Idiot die bosnischen Gesänge als "Türkengeheule" verunglimpft und mit dem Revolver für die serbische Ehre eintritt, das ist eine atemraubende Szene für die aus heiterem Himmel eskalierenden Spannungen: Aleksandars Mutter nämlich ist muslimischer Herkunft; auch seine Familie ist vom Wahn „ethnischer Säuberungen“ bedroht.

Aleksandar wird selbst von Anfang an als ein erzählerisches Naturtalent eingeführt, dessen Lehrer sich genau über jene Resultate überbordender Phantasie beschwert, die der Leser zuvor schon untergejubelt bekam. Diese Fähigkeit, dem der Roman eine Vielzahl in sich geschlossener Kurzgeschichten verdankt (die sich freilich alle im Gesamtrahmen zusätzlich mit Bedeutung aufladen), wird dann bei der Bombardierung und Besetzung der Stadt, den Vergewaltigungen und Deportationen auf die Probe gestellt. Denn die kindlich-naive Sicht, die sich auf Details richtet - das titelgebende Grammofon, auf einen sinnlos erschossenen Hund, auf ein herrenloses Pferd, das unbekannte Mädchen im Luftschutzkeller -, ist eine nachträglich erzeugte: Hinter den Bruch kann man nur mit den Mitteln der Fiktion zurückgehen.

Stanišić gelingt der Spagat, die Distanz bewußt zu halten, ohne die Unmittelbarkeit der Schilderungen zu schwächen. Er führt die Geschichte erst über den Krieg und die Flucht bis zur Ankunft in Deutschland, um dann über den Umweg eines eingeschobenen episodischen Frühwerks mit dem Titel „Als alles gut war“ noch einmal die verlorenen Kindheitstage heraufzubeschwören. Dieses Buch im Buch - das man in seiner ironischen Detailfixiertheit (mein Lieblingseis!) auch als sarkastisches Gegenstück zu westdeutschen Generationenbüchern à la Illies verstehen könnte - endet genau dort, wo der Roman einsetzt: beim Tod des Großvaters.

Im letzten Teil beschreibt Stanišić eine Reise in seine Heimatstadt, in der die zuvor erzählten Erinnerungen und Figuren mit der Gegenwart abgeglichen werden - und bei der zugleich deutlich wird, daß der Besucher aus Deutschland die Erfahrungen der Dortgebliebenen oder Zurückgekehrten nicht mehr teilt. So ist dieser Roman Abschied und Ankunft zugleich: Indem sich Aleksandar/Saša seiner Vergangenheit versichert, kann er sie hinter sich lassen. Wir aber können uns freuen über die Ankunft eines jungen, hochbegabten Erzählers in der deutschen Literatur.


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