Als die
Fische Schnurrbart trugen
Saša Stanišićs Debut erzählt von einer bosnischen Kindheit /
Von Richard Kämmerlings
Aleksandar Krsmanovic ist ein junger Angelmeister. Er ist
gerade aus der Pubertät heraus und hat bei den lokalen Wettkämpfen in
Visegrad an der Drina die ältere Konkurrenz düpiert - mit Hilfe eines
Spezialfutters, dessen Geheimnis nur er kennt. Dafür gibt es eine
Medaille, einen Klaps von Onkel Mika und die Qualifikation für die
Landesmeisterschaften, die am folgenden Wochenende in Osijek an der
Drau geplant sind. Es ist das Jahr 1991, im kroatischen Osijek ist
schon Krieg, und niemand sagt Aleksandar, daß hier keine
Landesmeisterschaften mehr stattfinden werden. Selbst das Land
Jugoslawien existiert nicht mehr. Im Frühjahr darauf wird auch das
bosnische Visegrad von serbischen Truppen erobert werden, und mancher
wird danach nie wieder einen Fisch aus der Drina essen wollen.
Visegrad, aus dem der 1978 geborene deutsch-bosnische Schriftsteller
Saša Stanišić stammt, zählte 1991 21.200 Einwohner, von denen zwei
Drittel Muslime waren. Als 1995 der Dayton-Friedensvertrag für
Bosnien-Hercegovina unterzeichnet wurde, gab es keine Muslime mehr in
der Stadt. Wer konnte, war geflohen, über zweieinhalbtausend aber waren
von den serbischen Milizen ermordet worden; viele Opfer wurden von der
großen Brücke in die Drina geworfen.
Das ist ein Detail des Schreckens, eines von vielen, doch wenn man es
kennt, liest man auch diesen Debütroman anders. Denn darin ist viel vom
Angeln die Rede und viel von der Drina, einmal wird sogar mit ihr, dem
Fluß, selbst gesprochen, und sie beschwert sich darüber, daß manche
Leute kaputte Waschmaschinen hineinwerfen. Von der blutigen Fracht, die
sie bald flußabwärts transportieren muß, kann sie da noch nichts ahnen.
Aber einmal vor dem Krieg fängt Aleksandar mit einigen erwachsenen
muslimischen Anglerfreunden einen Wels, der nach einem heroischen Kampf
am Ende einen Schnurrbart und eine Hornbrille auf der Nase hat. Einer
der Angler wird später von den Serben gezwungen werden, seine
hingerichteten Nachbarn in den Fluß zu werfen.
Saša Stanišić, der als Vierzehnjähriger mit seinen Eltern nach
Heidelberg auswanderte, hat einen Roman über seine Kindheit in Bosnien
geschrieben, über den beginnenden Krieg, über die Flucht und auch über
seine Versuche, in Deutschland die Vergangenheit festzuhalten, oder
besser: wiederherzustellen. Das Buch des jungen Autors wurde für den
Deutschen Buchpreis nominiert, und es wäre zwar eine Überraschung, aber
keine Sensation, wenn er ihn bekommen hätte: Denn Stanišic, der am
Leipziger Literaturinstitut studiert hat, ist es gelungen, für die
Geschichte seines Lebens eine erzählerische Form zu finden, die weder
die Perspektive des Kindes verrät, noch den unendlichen Abstand
leugnet, der den erwachsenen Autor von jenem bosnischen Jungen trennt,
der vieles ahnt, aber sich noch wenig von dem vorstellen kann, was
Menschen Menschen antun können.
Der Roman setzt ein mit dem Tod des geliebten Großvaters Slavko, eines
altgedienten Anhängers Titos, der für den ihm auch ideologisch
nacheifernden Enkel nicht nur den zerbrechenden Vielvölkerstaat,
sondern auch das Erzählen verkörpert. Der Zauberstab, mit dem Stanišićs
Alter ego (Saša ist ja eine Kurzform von Aleksandar) den Alten von den
Toten auferstehen lassen will, wird bald zum Stift, der eine
verschwundene Zeit festhält.
Gerade die ersten Geschichten des Bandes könnten dabei mit ihrem
grotesken Figurenarsenal und ihrer ungezügelten Fabulierlust wie
Schnappschüsse aus Kusturica-Filmen erscheinen: Slivowitz und
Scheißhäuser, Schlachtfest und Zigeunerkapellen. Doch man darf sich
davon nicht täuschen lassen. Stanišic malt hier manches multikulturelle
Balkan-Klischee besonders prall und satt aus, um die Realität um so
bedrohlicher einbrechen zu lassen: Wie bei einem ekstatischen Dorffest
plötzlich irgendein junger Idiot die bosnischen Gesänge als
"Türkengeheule" verunglimpft und mit dem Revolver für die serbische
Ehre eintritt, das ist eine atemraubende Szene für die aus heiterem
Himmel eskalierenden Spannungen: Aleksandars Mutter nämlich ist
muslimischer Herkunft; auch seine Familie ist vom Wahn „ethnischer
Säuberungen“ bedroht.
Aleksandar wird selbst von Anfang an als ein erzählerisches Naturtalent
eingeführt, dessen Lehrer sich genau über jene Resultate überbordender
Phantasie beschwert, die der Leser zuvor schon untergejubelt bekam.
Diese Fähigkeit, dem der Roman eine Vielzahl in sich geschlossener
Kurzgeschichten verdankt (die sich freilich alle im Gesamtrahmen
zusätzlich mit Bedeutung aufladen), wird dann bei der Bombardierung und
Besetzung der Stadt, den Vergewaltigungen und Deportationen auf die
Probe gestellt. Denn die kindlich-naive Sicht, die sich auf Details
richtet - das titelgebende Grammofon, auf einen sinnlos erschossenen
Hund, auf ein herrenloses Pferd, das unbekannte Mädchen im
Luftschutzkeller -, ist eine nachträglich erzeugte: Hinter den Bruch
kann man nur mit den Mitteln der Fiktion zurückgehen.
Stanišić gelingt der Spagat, die Distanz bewußt zu halten, ohne die
Unmittelbarkeit der Schilderungen zu schwächen. Er führt die Geschichte
erst über den Krieg und die Flucht bis zur Ankunft in Deutschland, um
dann über den Umweg eines eingeschobenen episodischen Frühwerks mit dem
Titel „Als alles gut war“ noch einmal die verlorenen Kindheitstage
heraufzubeschwören. Dieses Buch im Buch - das man in seiner ironischen
Detailfixiertheit (mein Lieblingseis!) auch als sarkastisches
Gegenstück zu westdeutschen Generationenbüchern à la Illies verstehen
könnte - endet genau dort, wo der Roman einsetzt: beim Tod des
Großvaters.
Im letzten Teil beschreibt Stanišić eine Reise in seine Heimatstadt, in
der die zuvor erzählten Erinnerungen und Figuren mit der Gegenwart
abgeglichen werden - und bei der zugleich deutlich wird, daß der
Besucher aus Deutschland die Erfahrungen der Dortgebliebenen oder
Zurückgekehrten nicht mehr teilt. So ist dieser Roman Abschied und
Ankunft zugleich: Indem sich Aleksandar/Saša seiner Vergangenheit
versichert, kann er sie hinter sich lassen. Wir aber können uns freuen
über die Ankunft eines jungen, hochbegabten Erzählers in der deutschen
Literatur.
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